Kazan an der Wolga
Kazan – im Westen kaum bekannt ist die wunderschöne Hauptstadt der halbautonomen Republik Tatarstans mit ihren mehr als eine Million Einwohnern nach Moskau und St. Petersburg eine der wichtigsten Touristenstädte in Russland. Bekannter wurde die Stadt an der Wolga durch ihre Rolle als Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Doch meiner Meinung nach sollte sie noch mehr Bekanntheit erlangen, denn es gibt etwas, was die Hauptstadt speziell und besonders macht. Dazu später mehr, denn zunächst gibt es erst einmal einige Hintergrundinformationen über die Geschichte Kazans.
Eines Tages machte ein reicher, flüchtender Fürst an dem Ort, an dem das heutige Kazan liegt, Rast. Da er nur goldene Gegenstände bei sich gehabt hatte, schickte er seinen Diener mit einer goldenen Schüssel los, um Wasser zu holen – doch diese fiel in die Wolga. Der Diener musste seinem Herrn das Missgeschick gestehen und rechnete mit einer furchtbaren Strafe. Überraschenderweise sah der Fürst darin jedoch ein Omen und errichtete daraufhin die Stadt Kazan, die er so taufte, weil „Kazan“ übersetzt das Wort „Schüssel“ bedeutet. Dies ist ein nettes Märchen, das sich die Bewohner der Stadt erzählen. Die reale Entstehungsgeschichte verlief höchstwahrscheinlich etwas anders.
Tatsächlich wurde Kazan um das Jahr 1005 von den Wolgabulgaren gegründet und war bis Mitte des 16. Jahrhunderts ein wichtiger Stützpunkt des mongolischen Reiches der Goldenen Horde und ein bedeutendes Handels- und Handwerkszentrum. Es war bekannt für die prächtigen Paläste und Moscheen sowie für die Lederwaren und Goldschmiedearbeiten. Zar Iwan der Schreckliche eroberte die Stadt im Jahre 1552 und machte das Gebiet zu einem Teil Russlands. Damit war Kazan die erste nichtrussische Stadt, die der Zar dem russischen Reich einverleibte und galt als Quelle des russischen Vielvölkerstaates. Nach dem vollständigen Abbrennen wurde sie wiederaufgebaut und hat sich zum wirtschaftlichen Zentrum entwickelt. Im Jahre 1708 von Peter dem Ersten als Hauptstadt des Gouvernements Kazan erklärt, entwickelte sich Kazan zu einem Handelszentrum für Porzellan, Keramik, Gewürze, Stoffe, Lederwaren, Weine und Früchte, was stark zum Wohlstand der Stadt beitrug. Weitere 100 Jahre später hatte sie sich zudem auch zum Kulturzentrum der Wolgaregion entwickelt und als bedeutende russische Universitätsstadt etabliert, denn große Persönlichkeiten wie Lenin und Tolstoi studierten an der Kazaner Universität – eine der ältesten des Landes. Mit der Gründung der Tatarischen ASSR wurde Kazan am 27. Mai 1920 deren Hauptstadt und verfügte über ein Kriegsgefangenenlager für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde Kazan dann die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan, was sich bis heute nicht verändert hat.
In Kazan hat der Islam bis heute einen großen Einfluss, doch die dort lebenden Muslime sehen sich als Bürger der Russischen Föderation und leben friedvoll mit den orthodoxen Mitbürgern zusammen. Dies ist das Besondere, das ich zuvor erwähnt habe: In der tatarischen Hauptstadt leben Russen, Tataren, Juden, Russlanddeutsche, Ukrainer oder auch Tschuwaschen seit Jahrhunderten neben- und vor allem miteinander – gleichberechtigt und harmonisch. Dieser Friede spiegelt sich in der Kultur und im Alltagsleben, aber auch in der Architektur der Stadt wider. Der Kreml in Kazan symbolisiert das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen, denn neben der im Jahr 2005 errichteten Kul-Sharif-Moschee steht dort auch die russisch-orthodoxe Mariä-Verkündigungskathedrale. Bemerkenswert friedvoll stehen auch an anderen Orten in Kazan die Gotteshäuser beider Glaubensrichtungen nebeneinander. Da der Kreml jedoch UNESCO Weltkulturerbe ist, ist er die bedeutendste Sehenswürdigkeit der Stadt und die Kul-Sharif Moschee ist sogar die zweitgrößte Moschee Russlands. Die Turmspitzen der Moscheen reflektieren die Kuppeln der Kathedrale und drücken das Zusammenleben der beiden Religionen sogar in der Harmonie ihrer Farben aus.
Wenn ihr nach Kazan reist, macht euch um die Verständigung mit den Bewohnern dort keine Sorgen: Über 97 % der Bevölkerung Tatarstans beherrschen die russische Sprache. Doch die dortige Regierung unternahm in den 1990er Jahren große und vor allem erfolgreiche Schritte in Richtung einer Revitalisierung der tatarischen Sprache. Im Jahr 2010 gaben über 92 % der Tataren und immerhin rund 4 % der Russen in Tatarstan an, Tatarisch sprechen zu können. Die drittgrößte Bevölkerungsgruppe stellen die Tschuwaschen dar, die wie die Tataren zu einer turkstämmigen Volksgruppe gehören. Ihre Sprache gehört zu einer der letzten noch lebendigen bulgarischen Turksprachen und beruht auf dem kyrillischen Alphabet. Während die Wolgatataren Tatarstans überwiegend Anhänger des sunnitischen Islams sind, sind die Tschuwaschen Bekenner der russisch-orthodoxen Kirche. Auch interessant ist das Beispiel der Krjaschenen: Lange Zeit wurden sie zu den Tataren gezählt, die den mittleren Dialekt der tatarischen Sprache sprechen, sich jedoch überwiegend zum russisch-orthodoxen Glauben bekennen.
Seit der Jahrtausendwende durchlebte Kazan einen starken Wandel und gilt mittlerweile als wichtigste Sportstadt des Landes – aber auch als eine der bedeutendsten Sportstädten der Welt. Im Jahr 2013 fand dort die Weltmeisterschaft des Hochschulsports, die „Universiade“ statt, die in Russland eine große Bedeutung hat. Außerdem trug die Hauptstadt Tatarstans Schwimm-, Gewichtheben- und Fecht-Weltmeisterschaften aus und ist jedes Jahr Gastgeber eines bekannten Tennisturniers. Nicht zu vergessen ist natürlich die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2018, für die Kazan ebenfalls ein Austragungsort war.
Durch all die bedeutenden Sportveranstaltungen gab es einen regelrechten Bauboom in Kazan – die Stadt erstrahlt mit akkurat gemähten Rasenflächen und vielfältigen Kulturdenkmälern in neuem Glanz. Dies durfte ich während meines Aufenthalts in dieser wunderbaren Stadt Tatarstans mit eigenen Augen sehen. An einem Samstagmorgen begab ich mich zu dem Flughafen Moskau-Domodedovo und flog etwas über eine Stunde nach Kazan. Wer nicht gerne fliegt, kann auch rund 12 Stunden mit dem Zug reisen. Da ich nur zwei Tage in Tatarstan verbringen wollte, entschied ich mich für die Reise mit dem Flugzeug. Mit etwa 120 Euro für den Hin- und Rückflug inklusiver einer Nacht in einem schönen, aber preiswerten Hotel, ist eine Reise von Moskau nach Kazan durchaus bezahlbar – und vor allem lohnenswert. Ich habe die Stadt als sauber, modern und vor allem mit herzlichen und liebevollen Bewohnern erlebt. Neben den prächtigen Villen auf dem Bauman-Boulevard, stehen restaurierte tatarische Holzhäuschen. Ungewöhnliche Neubauten, wie das Standesamt in Form einer riesigen Schüssel stehen neben neuen Sportstadien und Lenindenkmälern. Meiner Meinung nach gilt Kazan nicht umsonst laut Umfragen als lebenswerteste Stadt Russlands und als Metropole von nationaler Bedeutung. Völlig zurecht, wird die Hauptstadt Tatarstans von ihren Bewohnern gerne als „Russlands dritte Hauptstadt“ nach Moskau und St. Petersburg bezeichnet.