Das Geheimnis der russischen Seele

Das Konzept der russischen Seele (русская душа) ist genug bekannt, und bezieht sich auf die Idee, dass bestimmte Charaktereigenschaften einschließlich zum russischen Volke gehören. Es versteht sich vielleicht von selbst, dass man manche Eigenschaften von der Kultur bekommt, in der man wohnt. Die meisten Leute sprechen aber nicht von einer nationalen ‘Seele’. Woher kommt diese Idee und warum sind Leute so besessen von ihr?
Woher kommt die russische Seele?
Nationalistische Ideen waren in Russland fast immer beliebt, aber die ‘russische Seele’ wurde erst im 19. Jahrhundert erwähnt.
Vorher hatte Peter der Große das Wort ‘Seele’ verwendet, um über Steuereinheiten zu sprechen. In Nikolai Gogols Werk „Die toten Seelen” (Мёртвые души) vom Jahr 1842 verwendet der Landbesitzer dieselbe Einheit, ‘Seelen’, um Leibeigenen zu zählen, die er kauft und verkauft. Allerdings weist Gogol auch auf die religiöse Bedeutung des Wortes, um die geistigen Konsequenzen zu betonen, die der Landbesitzer riskiert, indem er seine Leibeigenen misshandelt.
Literaturkritiker Vissarion Belinskii sprach über die ‘russische Seele’ bei seiner Bewertung von Gogols Werk. Der Begriff verbreitete sich weiter und fing an, eingeborene Eigenschaften des russischen Volkes zu bezeichnen. Solche Eigenschaften waren nicht nur typisch ‘russisch’, sondern auch (was am wichtigsten ist) dem russischen Volke eindeutig zugeordnet. Die russische Seele war das, was Russland der Welt zu bieten hatte. In den Werken von großen russischen Schriftstellern wie Tolstoy, Dostoevsky und Chekhov sah man immer mehr Versuche zur Definierung des Russen, während zur gleichen Zeit Europa zurückgeweisen wurde, weil es seelenlos und kapitalistisch war.
Manche sagen, dass die deutsche Romantik das Fundament des Konzepts der russischen Seele war, weil die deutschen Romantiker den Rationalismus, der ganz Europa ergriffen hatte, heftig zurückwiesen. Trotzdem wiesen die russischen Vertreter der ‘russischen Seele’ sowohl Deutschland als auch den Rest Europas zurück!
Warum wurde die Idee so beliebt?
Im 19. Jahrhundert wurde Nationalismus in anderen Teilen Europas beliebt, und die russische intellektuelle Elite hielt es für nötig, sich selbst im Verhältnis zu ihren europäischen Zeitgenossen zu definieren. Noch dazu hatten russische Künstler bisher oft europäischen Formen in ihrer Kunst verwendet, und nun wollten sie ihren eigenen Stil finden.
Zum Teil waren Europäer auch zuständig für die Beliebtheit des Begriffs, da viele, die mit ihrer eigenen Heimat (und damit, wie der Kapitalismus auf sie auswirkte) unzufrieden waren, anfingen, Russland wegen seiner relativen Reinheit und moralischen Integrität zu idealisieren.
Ich habe ‘russische Seele’ gegoogelt und viele Artikel gefunden, in denen verschiedene Charaktereigenschaften von Russen gelistet werden. Das Konzept lebt also weiter!
Wie ist die russische Seele zu definieren?
Der Begriff trägt mit sich eine gewisse Rätselhaftigkeit und daher ist es nicht ganz klar, was mit ihm gemeint wird.
In der Vergangenheit sagte man, dass sich die russische Seele in Naivität, Gehorsamkeit und weitreichender Gastfreundlichkeit äußere. Hier sind einige weitere Beschreibungen von berühmten russischen Schriftstellern:
„Ich glaube, das wichtigste, das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein.” – Fyodor Dostoevskii
„Das ist unsere russische Apathie – keine Verantwortung zu fühlen, die uns unsere Rechte übertragen, und doch diese Verantwortung zu verneinen.“ – Lev Tolstoi
Interessant ist, dass nicht alle beschriebene Eigenschaften positiv sind. Russische Intellektueller analysierten sich selbst eher ehrlich, statt Russland bedingungslos zu loben.
Diese Beschreibungen galt übrigens nicht für alle Russen, da die russische Aristokratie als allzu verwestlicht betrachtet wurde. Im Gegensatz wurde die Bauernschaft als rein ‘russisch’ idealisiert, unberührt von westlichen Trends.
In zeitgenössischen Artikeln (selbstverständlich wird nicht mehr zwischen Adligen und Bauern unterscheidet) wird der typische Russe auf vielfältige Weise beschrieben: er sei zum Beispiel gastfreundlich, sehr ehrlich, und immer bereit, sich selbst für einen Freund zu opfern. Wenn Du russische Freunde hast, hast Du wahrscheinlich schon Verhaltensweisen, Eigenschaften und Werte entdeckt, die davon abweichen, woran Du in Deinem Heimatland gewöhnt bist. Je mehr wir uns mit Menschen aus einer anderen Kultur unterhalten, desto mehr wir Aspekte unserer eigenen Persönlichkeit bemerken, die wir von unserer Kultur einfach aufgenommen haben, ohne über sie einmal zu denken. Wir sind dann in einer besseren Lage, unseren Charakter zu verbessern, indem wir die positiven und negativen Seiten identifizieren. Vielleicht gibt es für Ausländer sogar die Möglichkeit, eine russische Seele zu entwickeln?…
Dieser Artikel wurde von Olivia geschrieben, einer jetzigen Studentin bei Liden & Denz Moskau