Keinen Wodka nach 23 Uhr
Die Situation ist klassisch: Gemütlich sitzt man mit ein paar Freunden zuhause (im Hotelzimmer, bei der Gastfamilie, usw.), erzählt sich was, trinkt dazu ein Gläschen. Und es kommt, wie es kommen musste: Der Wodka geht aus. Gerade eben hat man zu Trinkspruch XY der Flasche auf dem Tisch den Rest gegeben, und im Eisfach, da wo sonst der Nachschub herkommt, herrscht gähnende Leere. Entweder macht man mit Wasser weiter, oder es gehen alle in ihre Betten, oder einer muss eben raus zum Einkaufen. Variante eins und zwei kommen in den wenigsten Fällen in Frage, in den Ferien schon gar nicht, so dass noch Lösung drei bleibt, das Beschaffen von Nachschub. Möge das kleine Fest unter Freunden weitergehen! Das Finden eines noch geöffneten Ladens alleine wäre ja noch kein Problem: Russische Ladenöffnungszeiten sind sehr liberal, man muss so selten länger als 10 Fussmarsch in Kauf nehmen um bis zum naechsten 24-Stunden-Laden zu gelangen. Auch an Wochenenden ist immer irgendwo was offen. So richtig dick kommts erst, wenn man denn an der Metrostation angelangt ist und die Türschwelle zum Mikro-Konsumparadies überschritten hat: Da, wo tagsüber die Flaschen und Fläschchen schön nach Inhalt, Marken und Preisniveau geordnet standen und verführerisch glänzen und glitzern, versperrt nun ein grober Vorhang über die ganze Laenge der Auslage die schöne Aussicht! Die Djewuschka, die den suchenden, ob der unerwarteten Wendung der Dinge leicht verwirrten Blick des Kunden erkannt hat und auch richtig zu deuten weiss, gibt unerbittlich den Tarif durch: ‘‘Es ist schon elf, wir verkaufen nichts mehr.‘‘ Es entspannt sich folgender Dialog ‘‘Was, gar nichts mehr?‘‘ – ‘‘Nein, es ist zu spät.‘‘ –‘‘Ich meine, wirklich nichts mehr?‘‘ – ‘‘Nein, Sie habens doch gehört, es ist schon elf um und wir verkaufen keine Spirituosen mehr!‘‘ – ‘‘Nichts mehr, nicht eine Flasche??‘‘ – ‘‘Nein!‘‘ – ‘‘Gar nichts mehr???‘‘ usw. usw. Es hilft kein Bitten und kein Drängen, Verbot ist Verbot. Bevor man jedoch unverrichteter Dinge und mit leeren Händen abziehen muss, kommt einem die Verkäuferin doch noch zuhilfe (Man muss sie nur lange genug mit eindringlicher Fragerei nerven): Man solle es doch mal nebenan versuchen, da gäbe es vielleicht noch was… Im Kiosk da auf der anderen Strassenseite. Wohin man sich denn auch schnurstracks begibt, schliesslich sitzen ja zuhause die Freunde auf dem Trockenen und warten, selbst ist man auch durstig- da geht man in der Hoffung auf Erlösung jeder Spur nach. Beim Kiosk angekommen, wiederholt sich dann das selbe Frage-und-Antwort-Spiel: ‘‘Gar nichts mehr?‘‘- ‘‘Nein.‘‘ – ‘‘Wirklich nicht??‘‘ – ‘‘Nein.‘‘ Allerdings, so nach dem dritten oder vierten Mal nachfragen, blickt dann die Verkäuferin Nummer Zwei verschwörerisch aus ihrem Kabäuschen, wirft einen Kontrollblick je nach links und rechts die Strasse hinab, und sagt dann, ebenso geheimnisvoll wie vielversprechend: ‘‘Warten Sie mal kurz…‘‘Will sie die unerwünschten Kunden vertreiben? Wird sie die Polizei rufen wegen nächtlicher Ruhestörung? Oder noch schlimmer, einen der schnauzbärtigen aserbaidschanischen Hilfsarbeiter, die jeweils die Waren anliefern. Weit gefehlt, es droht weder der Gummiknüppel der Milizija noch ein kaukasischer Krummsäbel. Sie kramt nur in den Tiefen der gestapelten Waren, von wo schliesslich eine Flasche des lang gesuchten Elixiers zum Vorschein kommt. Geschafft! Stilecht, wie man das aus amerikanischen Filmen kennt, wird die Flasche in braunes Kreppapier eingewickelt, die geschäftstüchtige Kleinunternehmerin späht nochmal durch die Scheiben ihres Schuppens, ob da nicht gerade ein Polizist draussen vorbeigeht und nennt schliesslich den Preis. Der ist etwas höher als tagsüber, aber für das lange ersehnte Produkt nimmt man das doch gerne in Kauf. Dem Staat und seinen Verboten ist ein Schnippchen geschlagen, die kleine Abendunterhaltung kann weitergehen, zuhause warten die Kollegen schon! Bei all dem nächtlichen Hin und Her bleibt eine Frage unbeantwortet: Wie lange gilt das Verkaufsverbot eigentlich morgens? Bis vier, sechs, acht Uhr? Das weiss kein Mensch. Die Frühaufsteher unter den Wodkageniessern sind wohl eher selten. Urs Gisler