Die Russische Aufholjagd im Agrarsektor
Als im Zuge der Ukrainekrise die westlichen Grossmächte Wirtschaftssanktionen über Russland verhängten und die Regierung unter Präsident Putin ihrerseits mit Einfuhrstop von Agrarprodukten antwortete, hätte wohl niemand zu glauben vermocht, dass die strukturschwache Russische Landwirtschaft zu einer Aufholjagd ansetzen würde, welche nur wenige Jahre nach dem wirtschaftlichen Kräftezehren die Bruttoeinnahmen der heimischen Rüstungsgüterindustrie überflügelt.
Die Russische Landwirtschaft litt schon seit den Industrialisierungsbemühungen von den fünfiziger Jahren bis zum Zusammenbruch der Sovjetunion unter der gravierend mangelhaften Infratruktur, welche durch kaum vorhandenen Innovationswillen des sozialistischen Regimes immer unrentabler wurde und das ökonomische Potential Russlands mit Füssen trat. In Moskau war man stets der Meinung, dass sich primär die Satellitenstaaten auf die Produktion von Milch und weiteren Agrarrohstoffen konzentrieren sollten, wobei in ruralem Russischen Gebiet gleichwohl riesige Territorien zum Getreideanbau und zur Viehzucht verwendet wurde. Kachsachstan, beispielsweise, produzierte zu Spitzenzeiten bis zu 90 Prozent der in der Sovjetunion konsumierten Milch. Nach dem Zusammenbruch der Sovjetunion blieben immer mehr fruchtbare Anbauflächen brach liegen und die Russische Obrigkeit setzte abermals auf die Importstrategie von Agrargütern aus dem Ausland. Von Modernisierung und innovativen Geschäftsmodellen sollte noch lange keine Rede sein.
Mit dem Russischen Importverbot von Landwirtschaftsgütern sollte sich die Geschichte dieses Wirtschaftszweigs entscheidend ändern. Selbstverständlich konnten dem Russischen Volk über lange Frist keine leeren Supermarktregale zugemutet werden. Dies wurde der politischen Elite in Moskau schnell bewusst.
Importsubstitution sollte im Wirtschaftskrieg zum neuen Zauberwort avencieren. Was leicht abgehoben klingen mag, realisierte sich durch staatliche Investitionen in den für den Anbau von Ackerfläche wichtigen Regionen, beispielsweise in Teilen Sibierens, aber auch im Umland von Grossstädten wie Moskau. Strasse spriessten wie Pilze aus dem Boden, Stromnetze wurden erneuert und landwirtschaftliche Aktivitäten privater Entrepreneure mittels Subventionsbeiträgen gefördert. Die Modernisierung der Infrastruktur und die staatlichen Finanzspritzen riefen kleine und mittlere Unternehmen auf den Plan, welche vermehrt in den Anbau von Getreide und Gemüse, sowie in Milch-, Käse- und Fleischproduktion investierten. Agrarwirtschaft wurde über Nacht zu einem prestigeträchtigen Gewerbe. Selbst Oligarchen und illustre Geschäftsleute, welche nicht selten auf den Sanktionlisten des Westens stehen, pumpen nun kräftig frisches Kapital in den aufstrebenden Markt.
Es erstaunt deshalb wenig, dass die Anfangs September 2016 veröffentlichten Konjunkturdaten, diesen Zustand prägnant wiederspiegeln. Die Einnahmen der Landwirtschaft haben die Umsätze des volkswirtschaftlich äusserst bedeutungsvollen Rüstungssektors erstmals in der Geschichte des grössten Landes der Welt überstiegen. Laut führenden Konjunkturforschern ist der Agrarsektor der einzige Markt Russlands, welcher von Jahr zu Jahr ein zurückhaltendes, aber stetiges Wachstum von 2-3 Prozentpunkten verzeichnen kann.
Auch wenn die Staatslenker der EU-Länder und der USA kaum gefallen daran finden dürften und die vollständige Substitution ausländischer Importe ebenfalls noch in weiter Ferne liegt, hat das ökonomische Kräftemessen Russland zu einem Strukturwandel gezwungen, welcher, falls er weiter anhalten sollte, Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand verspricht.
Till Widmer, currently studying Russian at Liden & Denz Moscow